Über den Hindukusch nach Kabul (August 2006)
Unser zweiter Grenzübertritt nach Afghanistan will gut vorbereitet sein. Intensive Gespräche mit der deutschen Botschaft, den Sicherheitsbeauftragten der UN, Mitarbeitern in Hilfsorganisationen und die Auswertung des sogenannten ANSO Reports über alle sicherheitsrelevanten Vorfälle haben uns ein gutes Bild über die Lage in Afghanistan vermittelt. Ursprünglich hatten wir gehofft, dass uns die Deutschlandschilder am Auto eine zusätzliche Sicherheit bieten würden. Leider ist dem nicht mehr so. Die ISAF Schutztruppe (und somit auch deutsche Soldaten) sind ein zunehmend beliebtes Ziel für Anschläge aller Art geworden. Der Rat der Sicherheitsexperten für uns ist klar und deutlich: „Überdeckt die deutschen Nationalitätskennzeichen und haltet euch von der ISAF-Truppe, Militärkonvois und den afghanischen Sicherheitskräften fern!“ Der ursprünglich geplante Besuch bei der Bundeswehr in Kunduz fällt somit leider aus und die iranischen Nummernschilder kommen wieder zum Einsatz, um unser Auto nicht zu „deutsch“ aussehen zu lassen.
Entsprechend getarnt überqueren wir nach einer sehr umständlichen und langwierigen tadschikischen Grenzkontrolle den Panj Fluss (ehemals Oxus) auf einem alten russischen Militärponton im Schlepptau einer untermotorisierten Barkasse. Auf der afghanischen Seite verläuft die Kontrolle dann sehr unkompliziert und freundlich. Die Fragen nach Bakschisch überhören wir einfach ohne nachteilige Folgen.
Bild: Über den Panj
Eine sehr gut neu ausgebaute Straße führt uns nach Kunduz, wo wir eine Nacht bei den deutschen Mitarbeiterinnen eines Hilfs- bzw. Studienprojektes verbringen. Überhaupt werden wir in Afghanistan von einer Welle der Hilfsbereitschaft getragen. Hier halten alle ausländischen Hilfskräfte zusammen und helfen sich, wo es nur geht. Das macht die Sache für uns sehr viel einfacher und erlaubt uns immer wieder einen Blick hinter die Kulissen der verschiedenen Projektarbeiten. Den Abend in Kunduz verbringen wir in einem deutschen (!) Restaurant bei Grillwurst und Fassbier. Was für eine unerwartete Delikatesse an diesem Ort der Welt!
Bild: Hauptstraße
Bild: Ein PS
In Kunduz sind wir mit einem Geländewagen der Welthungerhilfe unterwegs, der ein Dutzend Einschusslöcher aufweist. Der Fahrer beruhigt uns, dass es sich hierbei „nur“ um die Folgen eines normalen Straßenraubes handelt. Zum Glück ist dabei niemand zu Schaden gekommen. Wir ziehen die Lehre daraus, in vergleichbaren Situationen nicht den Helden spielen zu wollen und halten für derartige Situationen ein Päckchen mit abgelaufenen Pässen/Kreditkarten, Reiseschecks und einigen Dollar zur Übergabe bereit.
Ursprünglich wollten wir auch die historische Stadt Balkh besuchen, die an der Seidenstraße eine sehr große Bedeutung als Handelzentrum hatte. Leider ist dieses Gebiet aus Sicherheitsgründen im Moment „off limits“.
Auf dem Weg nach Kabul genießen wir das quirlige Straßenleben, das in den ehemaligen Sowjetrepubliken leider etwas verloren gegangen ist. Langsam schrauben wir uns auf einer inzwischen sehr gut ausgebauten Straße in die Höhen des Hindukusch, der an dieser Stelle mit seinen Gipfeln um die 5000 Meter nahezu unüberwindbar ist. Der Salangpass mit dem ehemals höchsten Straßentunnel der Welt (3363 Meter) ist der einzige Punkt, um dieses riesige Gebirgsmassiv mit dem Auto zu überqueren. Entsprechend heftig waren auch die Kämpfe an dieser strategischen Stelle während der letzten Kriege. Heute ist die Strecke nach der Renovierung des damals von der Nordallianz gesprengten Tunnels leicht zu befahren. Auf Grund der vielen noch nicht geräumten Minenfelder muss man aber selbst bei den Pausen immer schön auf der Straße bleiben und über den Sicherheitsstandard des Tunnels sollte man gar nicht erst nachdenken.
Bild: LKW Karawane
Bild: Salang Tunnel
Mit der zweiten Tagesetappe erreichen wir Kabul, wo wir unser Camp bei Caroline und John im Garten der Hilfsorganisation ASET aufschlagen. Die von uns auf der gesamten Strecke und in Kabul „gefühlte Sicherheit“ ist sehr groß. Überall gibt es Checkpoints der afghanischen Polizei, was wir so nicht vermutet hätten. Die Autos werden auf den Einfahrtsstraßen sowie vor Banken, Hotel und wichtigen Gebäuden auf Autobomben durchsucht. Die ISAF Schutztruppe ist in der Öffentlichkeit kaum zu sehen und fällt bei den wenigen Begegnungen nur durch ihr materialreiches Auftreten auf.
Bild: Bei John im Garten
In der Dreimillionenstadt Kabul werden langsam die Wunden der Kriege (1979: sowjetische Invasion. Beginn des Afghanistan-Krieges; 1986: Beginn des Bürgerkrieg; ab 1994: Machtergreifung der Taliban; 2001: Sturz der Taliban ...) durch ein geschäftiges Alltagsleben überdeckt. Überall werden die Häuser wieder aufgebaut, Händler betreiben ihre Geschäfte, auf den Bazaren herrscht buntes Treiben, auf Hochzeiten wird wieder getanzt und laut gesungen und am Abendhimmel sieht man die vielen bunten Drachen; ein beliebtes Hobby der Afghanen, das unter der Talibanherrschaft verboten war.
Bild: Kabul Bazar | Bild: Kabul City |
Bild: TV-Hill | Bild: Hochzeit |
Unser erster Weg führt uns zum christlichen Friedhof in Kabul, wo wir das Grab von Aurel Stein, einer der berühmtesten Archäologen der Seidenstraße besuchen. Der Brite verstarb 1943 in Kabul bei den Vorbereitungen einer Expedition. Auf diesem Friedhof befinden sich
auch die Ehrentafeln der in Afghanistan verstorbenen (deutschen) ISAF Soldaten, denen wir ebenfalls gedenken.
Bild: Aurel Steins Grab
Bild: Isaf-Opfer
Auf der Suche nach Exponaten aus der Blütezeit der Seidenstraße besuchen wir auch das Nationalmuseum, das nach der Zerstörung durch die Taliban inzwischen wieder aufgebaut wurde. Allerdings sind während der Kriegswirren nahezu 80 % aller Exponate gestohlen und außer Landes getragen worden.
Im Kabuler Zoo findet sich die Bevölkerung mittlerweile zwischen den Trümmern und einiger depressiv wirkender Tiere wieder zum Picknick ein. Trotz der vielen grausamen Kriegsgeschichten, die wir immer wieder hören, versuchen die Menschen zur Normalität zurückzukehren und es ist eine intensive Aufbaustimmung zu spüren. Die Städte – und hier allen voran Kabul – sind dabei die Entwicklungsmotoren der Modernisierung, während im ländlichen Raum überwiegend die althergebrachten, traditionellen Gesellschaftsstrukturen bestehen. Trotzdem steckt die Infrastruktur des Landes nach europäischem Maßstab noch in den Kinderschuhen und Starthilfe ist hier überall nötig. Strom gibt es in den Städten nur für einige Stunden am Tag (und in ländlichen Gebieten oft gar nicht), so dass jeder, der es sich leisten kann, in seinem Garten oder auf der Straße einen laut knarrenden Generator zu stehen hat. In Kabul schlägt einem überall der typische Geruch von getrockneten Fäkalien und Abfall aus den offenen Kanälen entgegen, da der Fäkalstaub vom Wind durch alle Straßen getragen wird. Trinkwasser aus der Leitung muss immer abgekocht oder chemisch aufbereitet werden, um nicht an einer der vielen in Zentralasien grassierenden schlimmen Magen-Darminfekten zu erkranken.
Bild: Denkmal
Bild: Palastruine
Auch das Bankensystem steckt noch in den Kinderschuhen. Unsere Bemühungen, Traveller Schecks einzulösen, bleiben leider bei allen Banken ergebnislos, und die wenigen Geldautomaten sind abgeschaltet, weil sie einer libanesischen Bank gehören, die in den Wirren des Nahostkonflikts ihren Betrieb eingestellt hat.
Unsere fehlenden Ersatzteile besorgen wir uns gebraucht auf dem sehr abenteuerlichen Autobasar zum doppelten Neupreis.
Bild: Toyota Ersatzteile
Nach einer „logistischen“ Woche in Kabul brechen wir nach Zentralafghanistan auf, um Bamyan, einen der wichtigsten Punkte im Herzen der historischen Seidenstraße zu besuchen.