Auf Umwegen über Weißrussland/Belarus
Mai 2014
Nach der Öffnung des alten Handels- und Militärpass zwischen Russland und Georgien im Jahr 2012 schien die Zeit für einen neuen Versuch einer Kaukasusüberquerung gekommen zu sein. Bei unserer letzten Reise in diese Region im Jahr 2010 war diese Grenze für uns noch verschlossen. Dieses Mal wollten wir über die Ukraine mit Zwischenstopp auf der Krim weiter in den Kaukasus fahren. Doch durch die politischen Ereignisse in der Ukraine mussten wir unsere Routenplanung kurzfristig überdenken.
Wir hatten drei Alternativen: Die Route über den Balkan und die Türkei nach Georgien. Da uns diese Strecke aber schon gut bekannt war, wurde sie gleich verworfen. Wenn man sich die aktuelle Hochwasserlage auf dem Balkan ansieht, war das auch eine gute Entscheidung. Die Nordroute über das Baltikum wäre ein sehr großer Umweg und der Grenzübergang zwischen Estland und Russland hat einen sehr schlechten Ruf, was auch 2007 unsere Erfahrungen waren. Über Weißrussland und Russland in den Kaukasus zu fahren erschien uns anfangs wegen der komplizierten und aufwendigen Beschaffung der Genehmigungen eigentlich ausgeschlossen. Doch dann entdeckte Andreas auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes einen Hinweis, dass im Mai in Weißrussland die Eishockey-WM stattfindet und der Staatspräsident für diese Zeit die Visapflicht aufgehoben hat. Wir besorgten uns über das Internet schnell zwei Eintrittskarten für das Spiel Deutschland-Russland am 18. Mai und konnten uns so das komplizierte Visaverfahren einschließlich touristischer Referenz und Hotelbuchung ersparen
Was für ein glücklicher Zufall, denn mit diesen Tickets sollen wir nicht nur eine beschleunigte, unkomplizierte Grenzabfertigung haben, es bleibt uns auch die Pflichtkrankenversicherung und die Straßenbenutzungsgebühr mit einem extra auszuleihenden Mautgerät erspart.
Wir finden abseits dieser Orte aber immer wieder schöne Camps und Plätze zum Verweilen. Trotz der kühlen Temperaturen Anfang Mai gehen wir in Nationalparks wandern und fahren auf der Krutynia Kanu. Nachts messen wir im Zelt ein Grad Celsius.
Wir besichtigen hier im Nordosten Polens auch ein besonderes Mahnmal gegen den Nationalsozialismus und Krieg: Das Führerhauptquartier, die Wolfsschanze, wo Hitler während des 2. Weltkrieges fast 900 Tage im Bunker Nr. 13 verbracht hat. Heute kann man an der Wolfsschanze nur noch die gesprengten und mit Moosen überwachsenen Bunkerüberreste sehen. In einer angrenzenden Baracke verübte Graf von Staufenberg am 20. Juni 1944 das misslungene Attentat auf Hitler. Eine Gedenktafel würdigt heute genau an dieser Stelle die Tat. Wir schlagen direkt am Bunkerareal unser Camp auf und lassen die besondere Stimmung dieses denkwürdigen Platzes auf uns wirken. Heute ist der 8. Mai und in Russland feiert man den Sieg über Nazideutschland.Was für ein denkwürdiges Datum.
40 km von der Wolfsschanze entfernt liegt der sogenannte Mauerwald, das Hauptquartier des Oberkommandos der Wehrmacht. In dem gesamten Areal waren einst über 200 Bunker, zwei Flugplätze und eine besondere Eisenbahnlinie. Wir können diesen Wahnsinn hautnah besichtigen und auch in den einen oder anderen unbeschädigten Bunker noch einsteigen.
Wegen der kalten und regnerischen Witterung entscheiden wir uns spontan, zunächst nach Litauen und nicht direkt von Polen nach Weißrussland zu fahren, um uns die Stadt Vilnius anzuschauen. Als „Jerusalem des Nordens” war Vilnius einst Zentrum der jüdischen Kultur und Aufklärung. Infolge des 2. Weltkrieges verlor die Stadt durch Deportation und Ermordung die Mehrheit ihrer Bewohner. Ab dem 16. Jahrhundert schufen dann italienische Baumeister zahlreiche barocke Bauwerke und heute zählt die Altstadt von Vilnius als UNESCO-Weltkulturerbe zu den größten in Osteuropa. Aufgrund der über 50 Kirchen der Stadt trägt Vilnius auch den Beinamen „Rom des Ostens“. Wir genießen das Flair dieser Stadt mit den vielen kleinen Gassen und schönen Jugendstilfassaden. Fasziniert hat uns ein alternatives Stadtviertel, das sich „Republik Uzupis“ nennt. Die etwas ungewöhnliche Verfassung dieser autonomen Republik mit eigener Regierung und einem Parlament kann man in diversen Sprachen auf großen Spiegeltafeln nachlesen.
Für die Einreise nach Weißrussland checken wir am Vorabend unsere Dokumente und stellen sehr zu unserem Entsetzen fest, dass unsere nationale Zulassung für das Auto fehlt. Verlegt, liegen gelassen, irgendwo verloren ??? Auf alle Fälle nicht mehr auffindbar. Um aus der EU auszureisen, brauchen wir aber die nationale Zulassung und so entscheiden wir uns, dass Andreas nach Berlin fliegt, um sich eine neue Zulassung ausstellen zu lassen. Die Zeit läuft, denn es ist bereits Donnerstag und Sonntag findet das Eishockey-Spiel in Minsk statt. Kommen wir zu spät, verlieren wir unsere Einreiseberechtigung für Weißrussland. Über das Internet buchen wir spontan ein Flugticket und einen Termin bei der Zulassungsstelle in Berlin. Nach 24 Stunden ist Andreas mit der druckfrischen Zulassung wieder zurück in Vilnius. Wie gut, dass uns dieser Verlust gleich am Anfang der Reise passiert ist. Der Weiterreise nach Weißrussland steht jetzt nichts mehr im Wege.
Weißrussland wird nachgesagt, es sei die letzte Diktatur in Europa und viele Reisende umfahren dieses Land lieber. Der sonst so gefürchtete Grenzübergang stellt sich für uns als „temporäre Eishockey-Fans“ besonders freundlich dar. Es gibt eine separate Einreiselinie und unsere Papiere werden von überaus freundlichen Beamten bevorzugt bearbeitet. Wir bekommen auch problemlos ein Zollpapier für die vorübergehende Einfuhr unseres Autos (Gültigkeit bis August 2014!). Dieses Papier ist sehr wichtig, da Weißrussland und Russland eine Zollunion haben und wir später bei der Ausreise aus Russland die rechtmäßige Einfuhr unseres Autos nachweisen müssen.
Unser erstes Ziel ist die Hauptstadt Minsk. Die in vielen Reiseberichten angekündigten Straßenkontrollen können wir nicht bestätigen und die Menschen wirken ausgesprochen freundlich auf uns. Nur mit der englischen Sprache kommen wir hier nicht weiter und Ute muss ihre rudimentären Russisch-Kenntnisse aktivieren.
Wir wollen die Eishockey-Tickets aber nicht nur nutzen, um einfach durch Weißrussland reisen zu können, sondern das Spiel Deutschland-Russland auch live erleben und quartieren uns im Hotel Sputnik ein. Mit dem Stadtbus fahren wir dann zum riesigen Fan-Areal der Weltmeisterschaft, wo die Stimmung schon lange vor dem Spiel grandios ist. In dem ausverkauften Stadion sind unter Russen und Weißrussen nur eine Handvoll deutscher Fans. Auch wenn wir nicht wirkliche Eishockey-Kenner sind, so haben wir doch sehr viel Spaß in unserem sicher billigsten Block D unter harten Russen-Eishockey-Fans.
Das Spiel geht 3:0 für die russische Mannschaft aus aber die Russen gratulieren uns für das wirklich gute und faire Spiel. Immer wieder werden Fotos mit uns zwischen den russischen Fans gemacht.
Die Stadt Minsk selbst wirkt auf uns sehr sauber und aufgeräumt mit vielen Grünflächen. Im 2. Weltkrieg war die Stadt fast zu 80% zerstört. So ist nur ein kleiner Altstadtkern erhalten und rund herum wurden moderne Häuser gebaut. Interessant ist für uns die „Insel der Tränen“ im Svislach-Fluss. Man gedenkt hier der Opfer des russischen Afghanistankrieges (1979 bis 1989) und mahnt aber auch vor den Folgen der Kriege ganz allgemein.
Eine weitere Gedenkstätte besuchen wir in Khatyn. Das Dorf Khatyn wurde im März 1943 von der Deutschen Wehrmacht überfallen, alle Häuser niedergebrannt und bis auf wenige Überlebende alle Zivilisten brutal ermordet. Wir sind erschüttert, was hier geschehen ist. Und Khatyn steht stellvertretend für über 600 Dörfer und Orte in Weißrussland, die ein gleiches Schicksal hatten. Wenn man die vielen Besuchen an den Mahnmalen sieht, verstehen wir, warum die Angst vor „Angriffen aus dem Westen“ so sehr in der russischen Volksseele eingebrannt ist.
Ein weiteres trauriges Kapitel auf unserer Reise durch Weißrussland ist die Suche des Ortes Pligowki bei Orol, wo der Opa von Ute während des Krieges am 22. Juni 1944 gefallen ist. In dem Dorf gibt es nur noch zwei verlassene Häuser. Man kann die ehemaligen Panzer- und Geschützgräben, die zwar schon von Gras zugewachsen sind, noch gut erkennen. Hier kämpfte auf dem Rückzug die Heeresgruppe Mitte, der unser Opa angehörte. Zum Abschied hinterlassen wir an den Schützengräben eine Kerze. Mögen die Menschen verstehen, das Frieden das wohl Wertvollste ist, um das es zu kämpfen gilt. Dazu gehört aber auch, die Gegenseite zu verstehen und nicht nur den eigenen Standpunkt bis zum Letzten mit allen Mitteln durchsetzen zu wollen.
Wir verlassen Weißrussland. Erschüttert und tief berührt von dem, was wir gesehen haben und fühlen eine Schuld, die uns nie von den Menschen vor Ort vorgeworfen wird. Die Bilder der vielen Mahnmale an den Straßen, der deutsche Soldatenfriedhof Shatkowo und die Schlachtfelder werden uns noch lange in Erinnerung bleiben.
Die Einreise nach Russland ist in fünf Minuten erledigt. Eine richtige Grenzkontrollstelle gibt es nicht mehr. Nach einer kurzen Passkontrolle können wir weiterfahren.
Es bleibt spannend, was die russischen Grenzbeamten im Kaukasus sagen, wenn wir dort unsere Pässe ohne russischen Einreisestempel vorzeigen.
Eigentlich wollten wir in Russland über Rostow am Don in den Kaukasus fahren, aber diese Stadt liegt direkt an der Ostgrenze zur Ukraine und war in den letzten Wochen Aufmarschgebiet des russischen Militärs. Wir nehmen da lieber den Umweg über Wolgograd in Kauf. Auf den sogenannten Magistralen kommen wir mit einer Höchstgeschwindigkeit von 90 Km/h und den unzähligen Orts-und Stadtdurchfahrten nur mühsam voran. Wir brauchen für die 1100 Kilometer bis Wolgograd drei Tage. Doch wir werden mit wunderschönen Camps am Abend belohnt und endlich ist es auch wärmer geworden.
Kurz vor Wolgograd kommt uns dann eine Läuferin mit brennender Fackel auf der Magistralen M6 entgegen. Sie gehört zu einem Team von Läufern, die an einem internationalen Friedenslauf teilnehmen. Alle 5 km wird die Fackel an ein Teammitglied übergeben. Diese Gruppe von 6 Läufern ist in Südrussland gestartet und will am 8. August in Tomsk (Sibirien) sein. Wie symbolisch, dass wir die Gruppe gerade hier treffen, wo 1942 der grausame Krieg um Stalingrad wütete. Stalingrad war 2012 schon einmal Ziel unserer Reise und wir möchten an diesen Stelle auf unseren Reisebericht „Unterwegs ins Wolgadelta und in die Kalmückische Steppe“ verweisen.
Unser nächstes Ziel ist der Kaukasus, wo wir am höchsten Berg Europas, dem Elbrus (5.642 m) wandern wollen. Bis dahin haben wir noch weitere 1000 Kilometer vor uns.